Am Mittwoch den 04.08.2021 erschien in der WN der folgende Artikel von Ansgar Griebel:
Bei der Besichtigung von Manufakturen in Moskau und St. Petersburg bestaunte Clarissa Eichwald Gymnastikanzüge besetzt mit echten Swarowski-Steinen im Wert von 50 000 Euro. Viel teurer als alle Anzüge zusammen, die die Münsteranerin in ihrer langen Karriere trug. Unbezahlbar aber sind die Erinnerungen der 23-Jährigen an 18 lehr- und erfolgreiche Jahre bei der TG Münster.
Ortstermin an der Sporthalle der Turngemeinde Münster: „Die dürfte ich wohl noch finden“, sagt Clarissa Eichwald lachend. 17 Jahre lang war diese Stätte das zweite Zuhause der Münsteranerin. Als die Halle im Jahr 2003 feierlich eröffnet wurde, zog die sechsjährige Clarissa an der Lotharinger Straße mit ein, als die Halle im Sommer 2020 wegen Corona erstmals die Pforten schließen musste, zog die mittlerweile 23-jährige Sportgymnastin die Hallentüren hinter sich zu. Es war ein stiller Auszug, das lautlose Ende einer tollen Karriere als Sportlerin.
Vorbereitung auf das zweite Staatsexamen
Auch bei diesem Treffen ist die Halle verrammelt und verriegelt, diesmal ist es nicht das Virus, sondern die Sommerpause, die alle Geschäfte ruhen lässt. Die Hoffnung lebt, dass nach den Ferien der Betrieb wieder uneingeschränkt Fahrt aufnehmen kann, dann allerdings ohne Münsters beste Gymnastin des vergangenen Jahrzehnts. Clarissa Eichwald ist jetzt 23 Jahre jung – in der Sportgymnastik-Welt längst im Rentenalter. Die junge Frau kommt ohne Trainingstasche, direkt vom Schreibtisch. „Eine kleine Pause tut mir ganz gut“, sagt sie zur Begrüßung, zu Hause büffelt sie für die anstehende Klausur. Die Prioritäten haben sich verschoben: Zehn Semester ihres Medizinstudiums hat sie erfolgreich hinter sich, jetzt wartet das zweite Staatsexamen. Die Sportgymnastik ist aus der Tagesplanung gestrichen, die vier bis fünf wöchentlichen Trainingseinheiten wurden ersetzt durch Studieneinheiten, Hobbys und tatsächlich ein bisschen Freizeit.
„Aber es ist nicht so, dass ich plötzlich nicht weiß, was ich machen soll. Irgendwie ist die gewonnene Zeit auch schon wieder bis auf die letzten Minuten verbucht“, sagt Clarissa Eichwald. Sie studiert, arbeitet studienbegleitend im Evangelischen Krankenhaus, unterstützt ein mobiles Impfteam, spielt mit Freundinnen Tennis, joggt und arbeitet ein wenig an der Athletik. „So ganz mit dem Sport aufhören, das geht nicht und das will ich auch nicht.
Gymnastikanzüge allerdings werden nicht mehr gebraucht. Zahllose davon hatte sie in allen Größen und Designs, beim Training verschlissen, bei Erfolgen getragen und auf Siegerpodesten präsentiert. Dem neuesten Anzug war eigentlich der finale große Auftritt beim deutschen Turnfest in Leipzig 2021 zugedacht, stattdessen wandert dieses Modell nahezu unbenutzt in die prall gefüllte Erinnerungskiste voller unvergesslicher Andenken an ein Leben, das vom Sport geprägt war.
Karrierefinale wider Willen
Clarissa Eichwald hat unzählige Pokale gesammelt, 2016 landete sie bei der Wahl zu Münsters Sportlerin des Jahres auf einem tollen vierten Platz. 2019, damals mit 21 Jahren schon älter als die meisten Konkurrentinnen, legte sie die vielleicht beste Saison ihrer Karriere hin. Sie wurde Gaumeisterin, Landesmeisterin, gewann die Mitteldeutsche Meisterschaft, siegte erst beim nationalen Sommerpokal, dann beim NRW-Turnfest und schaffte es bei ihrer neunten DM-Teilnahme zum fünften Mal bis ins Finale der acht besten Gymnastinnen Deutschlands. Eigentlich der beste Augenblick, die Karriere auf ihrem Höhepunkt zu beenden. „Aber so war das nicht geplant“, erinnert sich Eichwald. „Ich glaube sogar, dass ich nicht so erfolgreich gewesen wäre, wenn ich gewusst hätte, dass das meine letzten Wettkämpfe sein würden.“ Geplant war ein finaler Auftritt beim deutschen Turnfest, dem kleinen „Olympia“ der heimischen Turner. Erstmals startete Eichwald 2009 in Frankfurt, nach 2013 in Mannheim und 2017 in Berlin sollte die Veranstaltung 2021 in Leipzig Schluss- und Höhepunkt der sportlichen Karriere werden – doch dann durchkreuzte Corona auch diese Pläne.
Wie eine zweite Familie
Was bleibt, sind beste Erinnerungen an eine prägende Zeit – und zahllose Kontakte zu ihrer zweiten Familie, wie Eichwald sie nennt. Die Trainerinnen, die sie teilweise vom ersten Moment an in der Halle bis heute begleitet haben und die ihr vom Alter her sogar näher stehen, als die jüngsten Turnerinnen, „die jetzt zu mir aufgeschaut haben, wie ich damals zu den Großen.“ Mehrere Generationen wie in einer echten Familie. Und zu der gehört längst auch die eigene: Die Mama – selber Schuld – , die ihre Tochter einst zur Sportgymnastik geschleppt hat, „weil sie den Sport so toll fand“, und die jetzt auch längst Expertin ist. Der Papa, der eigentlich, Fußballfan ist, aber als bekennender Gladbach-Anhänger seiner Tochter nicht nur die Nähe zum FC Bayern München nachgesehen hat, sondern sie auch zu möglichst vielen Wettkämpfen begleitet hat. „Auch, wenn er meist zwischendurch rausgegangen ist, weil er noch aufgeregter war als ich selbst.“ Aber lange nicht so sehr wie seine Tochter Isabel, die mit ihrer kleinen Schwester mitfieberte – und jeden Wettkampf bis zur letzten Sekunde mit verfolgen musste, weil sie als Kamerafrau eingeteilt war.
Für sie alle hat das Karriereende von Clarissa Eichwald eine neue Zeitrechnung mit ganz neuen Möglichkeiten und Zielen ermöglicht. Den Weg zur TG-Halle aber würden sie alle immer noch im Schlaf finden.
Quelle: WN vom 04.08.2021,Bild von Ansgar Griebel